Der Satz des Jahres

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Der mehrFAIR-Podcast mit Landesbischof Dr. Heinrich Bedford-Strohm

 

Ich weiß noch, es war vor Corona. Eine Ewigkeit scheint das her, nicht wahr? Jedenfalls in diesen unbeschwerten Zeiten las ich einen Satz, bei dem mir das Herz aufging. Ein Vierwortsatz. Ganz schlicht. Ich habe keine Ahnung, wo ich ihn aufgeschnappt hatte, aber er blieb mir im Gedächtnis als verdammt gutes Argument...

»Hass ist keine Meinung«

Ich fühlte mich gewappnet: Sollte ich je einem Menschen begegnen, der mir neben sarkastischer Verbitterung seine rasende Wut entgegen schleuderte, ich könnte diesen Satz aus dem Halfter meines Sprachzentrums ziehen. Selbstverteidigung im Namen der Demokratie. 

Sollte, könnte, würde: Natürlich lebe ich, wie die meisten von uns, in einer Blase. Die Menschen, mit denen ich gemeinhin diskutiere, sind von diesem Ausspruch genau so begeistert wie ich. Da kann ich ihn zwar zitieren und werde dafür getätschelt, brauche ihn aber nie mit einem mutigen „En garde“ aus dem Köcher zu holen.

In den vergangenen Monaten hat sich da jedoch was verschoben. Natürlich begegne ich seit März noch weniger Leuten, und diese sind umso ausgesuchter, je zäher das zottelige Virus in den Ausatmern lauert. Aber ich begegne Menschen aus anderen Lebensrealitäten trotzdem häufiger. Virtuell, weil ich eben auch viel virtueller unterwegs bin. Ich sehe also Leute, die hasserfüllt und mit Nazisymbolen ausstaffiert auf Staatsgebäude losrennen. Welche, die Krankenhauspersonal und Politiker*innen anpöbeln. Die Plakate hochhalten, auf denen Menschen an Galgen hängen und die das inzwischen unmaskiert und selbstverständlich tun, denn das, so sagen sie, dürfe man auf jeden Fall kundtun als Bürger*in. Das sei Meinungsfreiheit.

Da ploppt er in meinem Gedächtnis auf und wird gebraucht - dieser wunderbare Satz, der einem schnell beim Unterscheiden hilft: Was davon ist Standpunkt, was Hetze? Was davon will bekennen, was zerstören? Was davon ist offen für Debatte, was macht die Ohren zu und verleitet im schlimmsten Fall andere dazu, im Namen des Hasses grässlichen Terror zu begehen?

Ich spüre: Je anspruchsvoller die gesellschaftliche Lage, umso mehr Hass kommt hoch. Und ich ahne, dass das viel mit eben jenen Blasen zu tun hat, in denen wir leben. Diese Meinungsblasen hat Corona noch dichter gemacht. Dass Menschen dessen überdrüssig sind, frustriert und unmutig, ist verständlich und gerade wir, die wir in und für Kirche arbeiten, müssen alles dransetzen, dass niemand sich abgehängt fühlt. Gerechte Teilhabe heißt eben auch, dass man Menschen zuhört, die anderer Meinung sind. Wir müssen in Kontakt bleiben, im Idealfall gemeinsam darüber diskutieren, wie wir Corona, Zuwanderung, den Klimawandel und dabei obendrein Gerechtigkeit schaffen können und da ist jede Meinung und jede Idee es wert, ernst genommen zu werden. Aber doch gibt es auch da eine Grenze und diese definiert ganz wunderbar und unmissverständlich der Satz des Jahres 2020: "Hass ist keine Meinung".

Dr. Heinrich Bedford-Strohm
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Dr. Heinrich Bedford-Strohm

Zum Hintergrund:

Geäußert hat den Satz des Jahres Heinrich Bedford-Strohm, der Landesbischof der ELKB, in einem Interview mit der Augsburger Allgemeinen im Januar 2020. In diesem ging es um Hetze im Netz. Dr. Bedford-Strohm hat im Zusammenhang mit seinem Engagement für Geflüchtete immer wieder Morddrohungen erhalten. In dem Interview erläutert er den Satz so:

»Überall, wo die Verächtlichmachung und Sabotage der Menschenwürde öffentlich propagiert wird, kann man sich nicht auf die Meinungsfreiheit berufen.«

Die Jury schreibt dazu: „…der Satz (bringt) ein zentrales gesellschaftliches Thema des Jahres 2020 auf den Punkt, nämlich die Zunahme von Hassrede und Hasskommentaren in sozialen Medien und bei Demonstrationen, wie den Querdenker-Demos im Herbst und dem sogenannten Sturm auf den Reichstag am 29. August. (...) Im Jahr 2020 hat dieser verbal geäußerte Hass ein Klima geschaffen, das eine Zunahme rechtsextremer Gewalt gefördert hat. (...) Der gekürte Satz ist nicht neu – er wurde bereits 2017 als Titel eines Buches der Grünen-Politikerin Renate Künast verwendet. Doch im Kontext des zunehmenden Rechtsextremismus im Jahr 2020, den Bundesinnenminister Horst Seehofer als die größte Bedrohung im Land bezeichnet, erhielt der Satz eine besondere Aktualität.“ (http://www.satzdesjahres.de/presseinformation20210105.xhtml)

Die Satz-des-Jahres-Aktion wurde 2009 von dem Berater Milon Gupta initiiert. Ziel der Abstimmung ist, für Sprache zu sensibilisieren und besonders prägende Aussagen eines Kalenderjahres vor dem Vergessen zu bewahren. Der Satz des Jahres 2019 lautete übrigens: "Bitte hört auf die Wissenschaft!" Er stammt von Luisa Neubauer, Klimaaktivistin und Mitorganisatorin von „Fridays for Future“.

- Anke, 1.3.2021 -