Gerechtigkeit Im Spannungsfeld von Bedarf, Gleichheit und Leistung

Weinberg im Herbst
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Erinnern Sie sich an das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg (Mt20, 1-16)?  Das Reich Gottes wird mit einem Hausherrn verglichen, der Arbeiter einstellt, damit sie seinen Weinberg bestellen.
Jeder Arbeiter – egal wann er eingestellt wurde erhält den gleichen Lohn am Ende des Tages. Alle Arbeiter haben gemeinsam gearbeitet – welchen Platz wir in dieser Kooperation eingenommen haben hängt nicht nur von uns selbst ab, sondern auch vom Zufall, Zeit und Ort.  
Die Menschen erhielten kein Geschenk, sondern sie musste arbeiten für einen Lohn, der dazu ausreichte Ihre Familie für einen Tag zu versorgen. Wie lang sie im Einzelnen arbeiteten war dabei unerheblich. Der Maßstab des Hausherrn für Gerechtigkeit ist seine Güte, nicht die Leistung des einzelnen.
Das führt mich zu meiner Frage: Was ist eigentlich gerecht? Wie wird Gerechtigkeit bestimmt?
Gerechtigkeit bewegt sich in einem Spannungsfeld dreier Dimensionen: Gleichheit, Leistung und Bedarf.
In der Parabel über die Arbeiter im Weinberg erfolgt die Bezahlung nicht nach Leistung, sondern nach dem Gleichheitsprinzip und dem Bedarf, denn der eine Dinar Lohn reicht aus um eine Familie für einen Tag zu versorgen. Alle erhalten den gleichen Lohn – und zwar genau so viel wie sie für einen Tag benötigen.
Aber irgendwie auch ungerecht oder?
Denn unser Gerechtigkeitsempfinden entspricht oft dem Leistungsgedanken: Wer mehr leistet, soll auch mehr bekommen. Diese Form der Gerechtigkeit ist allerdings mit dem Problem verbunden, wer denn darüber entscheidet was wohl eine Leistung wert ist. In einer arbeitsteiligen Gesellschaft ist das kaum gerecht zu definieren.
Interessanterweise entspricht die Leistungsgerechtigkeit auch nicht dem ökonomischen Prinzip. Nicht die Leistung bestimmt einen Wert, sondern Angebot und Nachfrage regeln den Preis. Das leistungsgerechte Prinzip mag also unserer anthropologisch egoistischen Vorstellung von Gerechtigkeit entsprechen, fair ist es aber nicht und wirtschaftlich schon gar nicht. Und es entspricht auch nicht unserem kultivierten, moralischen Anspruch.
Dem Gleichheitsprinzip stimmen wir sofort zu, wenn es um gleiche Rechte geht: Menschenrechte, Bürgerrechte, wie das Wahlrecht. Jeder soll hier gleich sein. Es heißt eigentlich, dass wir uns unter Gleichen, auf Augenhöhe begegnen. So einleuchtend wie das in diesem Satz klingt, so sensibel muss man damit aber im Alltag umgehen. Viel zu oft übersehen wir die Anderen „Gleichen“.
Die Bedarfsgerechtigkeit ist in unserer Gesellschaft vor allem strukturell festgelegt. Eine Familie muss durch Ehegattensplitting und Kinderfreibeträge weniger Steuern zahlen. Eltern erhalten Kindergeld, Mütter Rentenpunkte bei der Geburt eines Kindes.
Aber auch hier ist die Frage: Wo hört für uns das Empfinden auf, dass Bedarfsgerechtigkeit wirklich gerecht wäre? Soll eine Familie für eine große Wohnung genauso viel Miete zahlen wie ein Single für seine kleine? Soll der Studierende vielleicht ganz umsonst wohnen, weil er nun mal eine Unterkunft in einer Universitätsstadt braucht?
Wie geht es Ihnen damit? Überlegen Sie mal? Greifen Sie sich ein aktuelles Thema Ihrer Lebenswirklichkeit heraus und fragen Sie sich: Wo stehe ich? Was empfinde ich hier als gerecht? Wie könnte ich das noch betrachten in dem Dreieck Leistung, Bedarf und Gleichheit.

Was wir als gerecht empfinden unterliegt einem ständigen Diskurs. Es ist das Ergebnis aus unserem natürlichen Gerechtigkeitsempfinden nicht benachteiligt werden zu wollen, unserer Erziehung und der ständigen gesellschaftlich politischen Diskussion. Gesellschaftlicher Wandel im digitalen Raum, eine alternde Gesellschaft, Konsumsättigung und vieles mehr beeinflussen diese Diskussion. Wir sollten uns unbedingt so oft wie möglich in diesen Diskurs einbringen, reflektieren wo wir selbst stehen und wo wir stehen wollen. Beziehen wir auch alle gleichermaßen mit ein? Nur wenn wir unter Gleichen miteinander diesen Diskurs über Gerechtigkeit führen, nur dann können wir Kriterien und Strukturen festlegen, die dann letztendlich unserem eigenen Anspruch an unser Moralprinzip der Gerechtigkeit gerecht werden.

Linn Loher, Oktober 2021