Vergissmeinnicht

Vergissmeinnicht
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Was Sie hier lesen, werden Sie sehr wahrscheinlich irgendwann vergessen haben. Ziemlich sicher den Wortlaut, vielleicht auch den ganzen Beitrag, möglicherweise auch, warum Sie hier eigentlich reingelesen haben.

Aber keine Sorge: Sie müssen sich wegen des Vergessens nicht gleich selbst vergessen. Das Vergessen ist menschlich, manchmal sogar gesund und reinigend, wenn wir das viele Irrelevante, das täglich auf uns einströmt, nicht im Gedächtnis behalten. Das sich-Selbst-Vergessen – nicht nur wegen seiner gefährlichen Mehrdeutigkeit – ist eher ungesund.

"Die Geschichte aller Zeiten und die heutige ganz besonders lehrt, dass diejenigen vergessen werden, welche an sich selbst zu denken vergaßen", so Louise Otto 1849. Ein gutes Beispiel dafür ist Elisabeth Schmitz (1893-1977) – eine Frau, welche aus der Vergessenheit heraus in Erinnerung zu rufen lohnt. Sie engagierte sich als mutige Fluchthelferin und scharfsinnige Kritikerin innerkirchlicher Blendung gegenüber der Judenverfolgung. Dabei stieß sie nicht nur innerhalb der Bekennenden Kirche kaum auf Gehör, sondern fand auch in der Nachkriegszeit so gut wie keine Beachtung. Sie verfasste eine Denkschrift zur Lage der Judenverfolgung, die sie der Synode der Bekennenden Kirche vorlegte. Mit eindringlichen Appellen versuchte sie alle führenden Persönlichkeiten der Bekennenden Kirche zu Solidarität mit allen Verfolgten aufzurufen und rief ihnen ins Gewissen, ihrer Verantwortung gerecht zu werden. Ihre theologische Grundposition unterschied sich dabei grundlegend von der damals auch in der Bekennenden Kirche vorherrschenden Auffassung, indem sie immer wieder eindringlich darauf hinwies, dass die Kirche sich nicht nur auf die verfolgten Kirchenmitglieder beschränken dürfe, sondern auch Juden und alle Verfolgten mit einbeziehen müsse.

Und heute? Am 27. Januar gedenken wir der Opfer des Nationalsozialismus. Das ist wichtig, denn angesichts eines neu erstarkenden Antisemitismus braucht es Erinnerungsarbeit. Erinnern, gedenken, handeln – das gehört zusammen. Wer sich an das Schicksal anderer erinnert, bekommt ein Gespür dafür, was Opfer heute erleben. Wir sollten auch an die erinnern, welche sich selbst vergaßen, damit wir uns nicht irgendwann selbst vergessen angesichts der Vergesslichkeit.

Elisabeth Schmitz' Apelle blieben im Übrigen wirkungslos, ihre Schriften unberücksichtigt und ihre Denkschrift sogar fälschlicherweise bis Ende des 20. Jahrhunderts einer anderen Autorin zugeordnet. Nach Kriegsende kehrte Elisabeth Schmitz in ihre Heimatstadt Hanau zurück und unterrichtete bis zu ihrem Ruhestand. Über ihr Engagement schwieg sie bis zu ihrem Tod 1977. Sie starb unverheiratet und kinderlos. An ihrer Beerdigung nahmen 7 Personen teil.

Elisabeth Schmitz steht beispielhaft für viele Menschen, die ihre Stimmen gegen Ungerechtigkeit klar und deutlich erheben, aber kein Gehör in der Geschichte fanden oder finden. 2011 wurde sie von der israelitischen Holocaust Gedenkstätte als "Gerechte unter den Völkern" ausgezeichnet. Damit wird auch auf die Notwendigkeit von Zivilcourage in der Gegenwart hingewiesen.

Courage und letztendlich Gerechtigkeit sind immer auch eine Frage der Entscheidung. Vielleicht sollten wir das nicht vergessen.

- Andrea, 25.01.2021 -