Was ist eigentlich gerecht?

Was ist gerecht? Können wir das überhaupt sagen? Oder anders gefragt, gibt es eigentlich wirkliche Gerechtigkeit? 

Jedes Jahr im Sommer gab es während meiner Schulzeit ein großes Sportevent: die Bundesjugendspiele. Ein Wettkampf, bei dem im Laufen, Weitsprung und Werfen Punkte gesammelt wurden. Wer eine bestimmte Punktzahl erreicht hatte, bekam eine Siegerurkunde, wer noch besser war, eine Ehrenurkunde. Und manche bekamen gar keine. Auch wenn das niemand so sagte - keine Urkunde zu bekommen war der Ausweis für Unsportlichkeit.

Ein Jahr kostete das zweien meiner Mitschülerinnen fast die Freundschaft. Beide waren keine Spitzensportlerinnen, aber sie mochten den Sportunterricht gern waren im guten Mittelfeld unterwegs. Bei den Spielen hatten sie sich gegenseitig angespornt und waren sich einer Urkunde in den drei Disziplinen sicher. Das hatte bisher immer geklappt. Doch diesmal kam es anders. Steffi, 1,75 groß und schlank, bekam eine Siegerurkunde. Kerstin, einen Kopf kleiner, dafür etwas breiter, ging leer aus. Statt gemeinsamer Freude war schlagartig Sendepause zwischen den beiden.

Dabei war alles mit rechten Dingen zugegangen. Denn gleiche Punktzahl bedeutet bei den Bundesjugendspielen nicht automatisch gleichen Ertrag. Der Knackpunkt: Sie waren nicht der gleiche Jahrgang. Kerstin war ein Dezemberkind, Steffi hatte im Januar Geburtstag. Deshalb hatten Kerstin fünf Punkte zur Siegerurkunde gefehlt. Sie hätte schneller laufen, weiter werfen und weiter springen müssen als Steffi, um mehr Punkte und auch eine Siegererkunde zu ergattern. Und das alles, weil sie ein paar Tage älter war - aber zwischen ihren Geburtstagen der Jahreswechsel lag.

Mit der Gerechtigkeit ist das also nicht so einfach. Was theoretisch gerecht erscheint, kann gefühlt und aus einer anderen Perspektive auch gut begründet ganz ungerecht sein. Warum setzt der Maßstab ausgerechnet beim Jahrgang an und nicht etwa bei der Körpergröße? Für beides lassen sich Argumente finden. Aber am Ende braucht es eine Entscheidung. Was als gerecht gilt, ist zumindest immer bis zu einem gewissen Grad eine Festlegung, die je nach geltendem Weltbild und Werteverständnis anders aussehen kann. So konnte auch Aristoteles zu seiner Zeit problemfrei behaupten, dass Gerechtigkeit die größte Tugend sei, aber Frauen keine Rechte haben.

Einer, der das heutige Gerechtigkeitsdenken maßgeblich beeinflusst hat, ist der amerikanische Philosoph John Rawls. Sein Geburtstag jährt sich in wenigen Wochen zum 100. Mal, 2002 ist er gestorben. In seiner "Theory of Justice" (1971) geht er davon aus, dass Menschen intuitiv wissen, was der Gerechtigkeit dient und dass dies nicht die jeweilige Sicht eines einzelnen Menschen sei. Stattdessen gebe es über das Verständnis von Gerechtigkeit einen universellen und ursprünglichen Konsens. Um zu diesem gemeinsamen Gerechtigkeitssinn zu gelangen, bemüht er ein Gedankenexperiment: Stellen wir uns vor, dass Menschen in einem neutralen Kontext und als Gleiche zusammenkommen (also ohne Hautfarbe, ohne Geschlecht, ohne Zugehörigkeit zu einer Nationalität oder zu einer Familie oder einem Milieu). Alle sind in gleicher Weise frei und vernunftbegabt. In diesem Zustand sollen sie über die Grundverhältnisse und Grundsätze des Zusammenlebens entscheiden - ohne zu wissen, welche Hautfarbe, welches Geschlecht, welche Herkunft oder Bildung sie selbst erhalten werden. Wie werden sie wohl entscheiden? Rawls ist der Überzeugung, dass sie sich für gleiche Rechte und Pflichten aller aussprechen und soziale oder wirtschaftliche Ungleichheiten nur dann akzeptieren, wenn diese am Ende allen und im Besonderen den schwächsten Mitgliedern der Gesellschaft dienen. Solche Gerechtigkeit, die ausgehend von gleichen Voraussetzungen auf einem gemeinen Konsens fußt, nennt er Gerechtigkeit als Fairness.

Übetragen auf das Eingangsbeispiel heißt das, in einem Urzustand, in dem weder Körpergröße noch Geburtsjahr feststehen, würden sich Steffi und Kerstin auf das gleiche Kriterium einigen, anhand dessen die Leistung bei den Bundesjugendspielen bewertet wird. Bei gleichem Ergebnis und unterschiedlichem Ertrag sollten Frust und das Gefühl, ungerecht behandelt worden zu sein, dann entsprechend ausbleiben. Offen bleibt aber immer noch, ob der Beurteilungsmaßstab nach Jahrgang wirklich gerechter ist, als der nach Körpergröße.

Klar, bei diesem Beispiel handelt es sich letztlich um eine Bagatelle. Kein Leben hängt von einer Siegerurkunde ab oder wird wegen einer nicht erhaltenen schlechter. Die Geschichte lässt sich aber auf viele Lebenssituationen übertragen, die weit wichtiger oder gar existenziell sind. Denken wir nur mal kurz an die Diskussion, welche Gruppen zuerst gegen das Coronavirus geimpft werden sollen und ob es für die Geimpften besondere Privilegien geben solle. Dann stellen wir schnell fest, wie schwer es doch ist, wirklich gerechte Entscheidungen zu treffen.

Die Gerechtigkeitstheorie von Rawls hilft uns also nicht, einfache Antworten zu finden. Aber sie lässt sich gut verwenden, um unsere bestehenden Verhältnisse des Zusammenlebens und des Arbeitens sowie der Beteiligung und der Verteilung genau unter die Lupe zu nehmen. Mir selbst dient sie immer wieder als kritisches Korrektiv. Wenn ich mich selbst ungerecht behandelt fühle, denke ich mich manchmal in den neutralen Raum oder hinter den "Schleier des Nichtwissens", wie Rawls es nennt, in dem alle unter gleichen Voraussetzungen Entscheidungen über das Zusammenleben treffen. Stelle ich mir dann vor, wie ich entscheiden würde, wenn ich anstatt in meiner in einer ganz anderen Rolle wäre, nimmt mir das häufig schnell den Wind aus den Segeln der Empörung. Mitunter aber stelle ich fest, dass mein subjektives Empfinden tiefer liegende Ursachen hat, die nicht nur meine persönliche Komfortzone betreffen, sondern auf eine Schieflage in unseren gesellschaftlichen Übereinkünften und Strukturen hinweisen. Dann wird es Zeit, den Mund aufzumachen.

 

Barbara, 18.01.2021